© Gitte Härter

Flau im Magen, das Herz klopft bis zum Hals, die Hände zittern, die Knie sind weich und unattraktive rote Flecken zeigen sich … das verflixte Lampenfieber hat zugeschlagen! Es kommt gerne, wenn wir es am wenigsten gebrauchen können – nämlich wenn wir im größeren oder kleineren Kreis öffentlich reden sollen. Der erste Impuls ist dann meist: „Wie werde ich das Zittern bloß so schnell wie möglich wieder los?“ Verständlich. Wer findet es schon klasse, wenn der Körper plötzlich ein schwer steuerbares Eigenleben entwickelt?

Also vermeiden wir Situationen, die das Lampenfieber auf den Plan rufen. Oder wir versuchen, der Angst mit ausgefeilten Entspannungstechniken und Mentaltraining zu Leibe zu rücken. Nur um festzustellen, dass auch die beste Atemübung die Aufregung nicht einfach in Luft auflösen kann.

Was halten Sie davon, sich mit dem Lampenfieber anzufreunden statt gegen die Anspannung zu kämpfen? Auch wenn das jetzt möglicherweise absurd klingt: Begrüßen Sie das Lampenfieber mit offenen Armen. Denn der Adrenalinschub meint es gut mit Ihnen!

Grund 1: Ihr Lampenfieber ist und macht menschlich.

Sie kennen das sicher aus eigener Erfahrung: Wenn wir einen Redner erleben, der ganz offensichtlich nervös ist, dann fühlen wir mit ihm mit und sind manchmal auch ein bisschen erleichtert: „Ach Gott, dem/der geht es ja genauso wie mir. Ich bin nicht der/die Einzige!“

Und auch das kann jeder Zuhörer nachvollziehen: Das Reden vor anderen stellt uns buchstäblich auf die Bühne. Jetzt sind alle Augen auf uns gerichtet. Diese Ausnahmesituation lässt einige Glückliche zur Höchstform auflaufen, bei den meisten Menschen allerdings meldet sich ein Fluchtreflex. Den können wir nicht kontrollieren oder durch Willenskraft abschalten. Der Körper reagiert einfach.

Wenn wir jetzt mit den Symptomen hadern oder dagegen ankämpfen, verstärken wir sie nur noch! Nehmen wie diesen Reflex jedoch an und lernen, dass es absolut in Ordnung ist, wenn unsere Hände ein bisschen zittern oder sich ein paar hektische Flecken zeigen, legt sich die Anspannung sehr viel schneller.

Nun sagen Sie vielleicht: „Ja, aber das kratzt doch an meiner Kompetenz, wenn mein Publikum sieht, wie aufgeregt ich bin!“. Nur, wenn Sie das zulassen! Lampenfieber selbst ist kein Ausdruck von Unsicherheit oder gar Inkompetenz, sondern ausschließlich von Nervosität. Unsicher wirken Sie nur dann, wenn Sie sich runterziehen lassen, weil Sie sich diese zutiefst menschlichen Zeichen der Anspannung nicht zugestehen. Ihr Publikum gesteht sie Ihnen zu. Wir verteilen sogar Sympathiepunkte, wenn wir merken, dass wir es mit einem normalen Menschen wie Du und ich zu tun haben, und nicht mit einem Übermenschen. Außerdem ist die Nervosität ein eindeutiges Signal dafür, dass dem, der da vorne steht, die Sache ernst ist.

Ihr Lampenfieber sorgt also dafür, dass Sie eine schnellere Verbindung zu Ihren Zuhörern bekommen. Mögen wir den Redner, weil wir uns identifizieren können, werden wir offener für seine Botschaft.

Übrigens: Auch wenn es innerlich brodelt, kommt außen nur ein Bruchteil unserer Unruhe an.

Grund 2: Ihr Lampenfieber sorgt dafür, dass Sie Ihren Horizont erweitern.

Nervosität macht sich bemerkbar, wenn wir an unsere Grenzen stoßen. Das können fachliche Grenzen sein, weil Sie das Gefühl haben, in einem Thema noch nicht absolut sattelfest zu sein und sich deshalb der Rede-Situation noch nicht gewachsen fühlen bzw. sich lieber erst weiteres Wissen aneignen möchten.

Weitaus häufiger jedoch stoßen wir an persönliche Grenzen. Es braucht eine ordentliche Portion Mut, sich zu zeigen und die eigenen Themen zu präsentieren. Zu verlockend ist es manchmal, die sichere und kuschelige Komfortzone zu hüten. Weiterentwickeln können wir uns allerdings erst, wenn wir auch einmal Neues ausprobieren und über unseren eigenen Schatten springen. „Da, wo die Angst ist, da geht‘s lang!“ Das trifft auch für das Reden zu.

Mich selbst nehme ich da übrigens nicht aus: Ich bin heute Trainerin für öffentliche Auftritte und stehe gerne auf der Bühne, dennoch kenne ich das Nervenflattern nur zu gut. Einer der prägendsten Momente kam für mich vor einigen Jahren, als ich noch angestellt war: Ich hatte eine Tagung für rund 100 Vertriebsführungskräfte vorbereitet. Vier Tage vor der Veranstaltung ruft mich mein Chef an: „Andrea, ich kann am Dienstag nicht die Moderation übernehmen. Ich muss zu einer Beerdigung.“ Mmmmh. Nach einer kurzen Denkpause habe ich als jüngstes Teammitglied sofort zwei Namen erfahrener Kollegen parat, die für ihn einspringen könnten – typische Vermeidungsstrategie. Da sagt mein Chef: „Nein, ich möchte, dass Du das machst!“

Es folgten unruhige Tage mit zermürbendem Kopfkino: „Was ist, wenn die mich nicht als Chef-Ersatz akzeptieren?“ Beim Schritt auf die Bühne war ich so nervös wie nie zuvor. Ich konzentrierte mich und legte los. Nach und nach wurde ich lockerer. Als ich am Abend, ziemlich erledigt und durchgeschwitzt, die Feedbackbögen durchblätterte, wusste ich: „Wow! Ich habe es geschafft und mich damit auch irgendwie freigestrampelt. Jetzt bin ich nicht mehr ‚die Kleine’ – weder in der Eigen- noch in der Fremdwahrnehmung.“

Im Nachhinein war ich damals ganz schön froh, dass mein Chef mir einen Tritt in den Allerwertesten verpasst hat. Darf ich heute Sie ein wenig anschubsen? Schließlich bieten sich tagtäglich Lampenfiebersituationen, in denen wir wachsen und an unseren Grenzen kitzeln können: Das muss nicht der Auftritt im großen Plenum sein. Vielleicht ist es der Redebeitrag in einem Meeting, vor dem Sie sich bislang gescheut haben oder die Präsentation beim Kunden, die Sie gerne dem Kollegen überlassen haben oder …?

Geben Sie sich immer wieder die Gelegenheit, über sich hinauszuwachsen! Dabei können Sie ruhig ganz kleine Schritte machen. Das Lampenfieber zeigt Ihnen den Weg.

Grund 3: Ihr Lampenfieber hilft Ihnen, sich exzellent vorzubereiten.

Nervosität macht sich oft – wie in meinem Beispiel – nicht erst kurz vor der Rede bemerkbar, sondern meistens schon, wenn der Termin im Raum steht. Jetzt ist der beste Zeitpunkt, näher hinzusehen, wovor Ihnen die Knie zittern:

  • Ist es die Angst vor dem persönlichen Scheitern? Dass Sie Ihren eigenen hohen Ansprüchen nicht gerecht werden könnten oder sich total blamieren? Wahre Horrorszenarien sind es, die da manchmal vor dem inneren Auge ablaufen: Hoffentlich habe ich keinen Blackout, hoffentlich fange ich nicht an zu stottern, hoffentlich fallen mir meine Unterlagen nicht aus der Hand …
  • Oder fürchten Sie sich eher vor den Reaktionen Ihrer Zuhörerschaft? Werde ich alle kritischen Fragen beantworten können? Gibt es Menschen im Publikum, die mich zerlegen wollen? Was mache ich, wenn die Leute mich nicht mögen/akzeptieren? Hoffentlich langweile ich niemanden!
  • Möglicherweise ist es auch die Angst vor unkalkulierbaren Zwischenfällen, die Ihnen zu schaffen macht. Wie gehe ich damit um, wenn plötzlich der Beamer seinen Geist aufgibt? Das Laptop oder der Ton ausfällt? Bin ich spontan genug, um das Problem vernünftig zu lösen?

Erst wenn Sie genau wissen, was Ihnen den meisten Respekt einflößt, haben Sie die Chance, dort anzusetzen und sich zielgerichtet auf die entsprechende Situation einzustellen. Dann haben Sie nämlich nicht mehr allgemein vor dem öffentlichen Reden Angst und liefern sich der Aufregung einfach aus, sondern Sie behalten die Fäden in der Hand.

Schreiben Sie zu jedem zutreffenden Punkt auf, wovor Sie sich konkret fürchten. Also nicht nur „ich könnte ausgelacht werden“, sondern warum genau hätte man Grund, Sie auszulachen? Was wäre für Sie das Schlimmste, was während des Vortrags passieren könnte? Dieses Worst-Case-Szenario ist sehr wichtig. Oft merkt man nämlich selbst, dass das, was man sich so an Horrorszenarien zusammenbastelt, nicht besonders wahrscheinlich ist.

Das heißt nicht, dass Sie Ihre Angst kleinreden sollen. Im Gegenteil! Nehmen Sie Ihre Ängste ernst, auch wenn Sie sie gleichzeitig logisch widerlegen können. Wer sich mit befürchteten Folgen auseinandersetzt, kann sich im Vorfeld Strategien überlegen, um die Konsequenzen zu vermeiden oder sich einen „Plan B“ auszudenken: Wenn X passiert, könnte ich Y tun, um die Situation zu retten.
So gehen Sie an die Wurzel, anstatt sich von einem Symptom einschüchtern zu lassen. Sie schaffen Fakten und kommen ins Handeln.

Grund 4: Ihr Lampenfieber hält Ihr Publikum fest im Blick.

Die Angst vor der öffentlichen Rede ist immer fest mit dem Publikum verknüpft: Wie komme ich an? Akzeptiert man mich? Wenn Sie jetzt nicht an Ihren Zittersymptomen hängen bleiben, sondern die Angst weiterverfolgen, dann führen diese Fragen unweigerlich zu der Überlegung: Welche Erwartungen haben meine Zuschauer – an mich und an das Thema? Denn bei einem Vortrag geht es nicht darum, möglichst formvollendet die eigene „Show“ durchzuziehen, sondern zu schauen, wie Sie Ihre Zuhörerschaft tatsächlich erreichen.

Unser Publikum schenkt uns seine Aufmerksamkeit und Zeit. Die Zuhörer erhoffen sich Antworten auf drängende Fragen und wünschen sich, dass der Redner ihnen neue Impulse gibt, die ihnen im beruflichen oder privaten Alltag weiterhelfen. Außerdem wollen sie sich nicht langweilen, sondern freuen sich, wenn eine Rede praktisch und lebendig ist.

Ihr Lampenfieber gibt Ihnen also rechtzeitig vor dem Rede-Termin die Gelegenheit, Ihr Thema und Ihren Auftritt durch die Brille der Zuhörer zu betrachten: Welches Thema interessiert Ihre Zuhörer? Welche Fragen haben sie? Wofür werden dringend Antworten gesucht? Welche Art von Vortrag stellt man sich vor?

Grund 5: Ihr Lampenfieber lässt Sie automatisch lebendiger rüberkommen.

Jetzt wird’s ernst: Der Auftritt steht kurz bevor. Ihr Körper macht sich bereit für die Ausnahmesituation.

Bitte kämpfen Sie nicht dagegen an! Wenn Sie das Lampenfieber einfach annehmen – das ist halt so, das nimmt mir niemand übel – verschwinden die Symptome schneller, als Sie es für möglich halten. Denken Sie lieber daran, wie vorteilhaft dieser Nervositätsschub für Ihren Auftritt sein wird:

Auf den Hormoncocktail, der jetzt ausgeschüttet wird, ist Verlass. Selbst wenn wir vor lauter Aufregung mal die halbe Nacht kein Auge zugemacht haben. Der Körper stellt in solchen Extremsituationen alle Antennen auf höchste Aufmerksamkeit. Wir fühlen zwar Angst, sind aber gleichzeitig total konzentriert und präsent.

Manche erleben den eigenen Vortrag wie im Film. Sie sehen sich da stehen und hören sich Dinge sagen, bei denen sie im Nachhinein über sich selbst staunen.

Vielleicht gehören Sie zu den Menschen, die ein paar Minuten brauchen, um sich reinzufinden. Denn selbst, wenn man sich dazu entschließt, das Lampenfieber zu begrüßen, kann es natürlich trotzdem sein, dass die Hände zittern oder sich die Stimme überschlägt. Nicht schlimm!

Lassen Sie sich durch das Adrenalin pushen, auch wenn es erst mal holpert. Wenn Ihr Publikum merkt, dass Sie Ihr Thema mit Herzblut vertreten, dann wirken Sie echt und überzeugend. Die Folge: Man hört Ihnen viel lieber zu und glaubt Ihnen mehr!

Sie sehen, das Lampenfieber meint es gut mit Ihnen! Lassen Sie sich von einem flauen Magen und kalten Händen künftig nicht mehr verunsichern. Und denken Sie bitte an das gute Gefühl, wenn es geschafft ist. Diese unbeschreibliche Mischung aus Freude über die eigene Leistung, Erleichterung und nicht zuletzt Stolz, den inneren Schweinehund besiegt zu haben, ist der Lohn fürs Zittern.

Man muss es einfach gern haben – das ungeliebte Nervenflattern.